Catinelli

Clau-Pieder Catinelli liebt alte Stahlrösser, Eroicas und Schmiermittel aller Art…


Ausschnitt aus ‚Ein Fuss zu viel‘

Clau-Pieder Catinelli war es gewohnt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu reisen. Er hatte keinen Führerschein, schon gar kein Auto, dafür ein Generalabonnement für sich und sein jeweiliges Fahrrad, das er gerade bei sich hatte. Seine Reise zur Eroica in Quinto führte zunächst von Dijon nach LCDF, wo er ‘Le Vélo’ holte, dann nach Basel und via Luzern nach Airolo im Tessin. Dort fand er für die Nacht in der Pension eines befreundeten Ehepaars Unterkunft. Seine Hoffnung auf eine Übernachtung ohne Voranmeldung war hier oben in Airolo erfahrungsgemäss berechtigt; seit dem Bau des Gotthardbasistunnels waren Gäste bei Verena und Victor nämlich Mangelware.
«Du hast aber ein Riesenglück, dass ich noch ein Bett für dich habe, Clau-Pieder», sprach Verena an der Haustür entgegen dem Trend, «es haben schon einige Velofahrer angeklopft, ob sie bei uns im Rustico übernachten können. So wie du ausschaust, willst du morgen ja auch an diese Erotica-Veranstaltung.»
«Eroica heisst die Vintagefahrt, Eroica! Wie die dritte von Beethoven. Dieses soziale Ereignis kommt ursprünglich aus Italien und heisst übersetzt ‘die Heldenhafte’. Das Phänomen ist mittlerweile auf ganz Europa übergeschwappt.» Catinelli kam ins Dozieren. «Mit Erotik hat das aber nicht viel zu tun. Wobei, ganz so falsch ist es auch wieder nicht, wenn man Sadomasochismus zur Erotik zählt. Es ist nämlich purer Masochismus, mit den alten Göppeln den Berg bei über 20 Prozent Steigung rauf zu zäberlen. Vor allem auch, weil es auf der Fahrt selten bei einem Bier bleibt!» Catinelli geriet vor lauter masochistischer Vorfreude ins Schwärmen. «Und sadistisch ist es, wenn man andere dazu anstiftet!» Er dachte dabei an seinen Kumpel ‘A. Schrani’, der hier, am oberen Ende des Valle Leventina, immer noch nicht aufgetaucht war.
«Passt das denn zusammen, Rennsport und Bier, Clau-Pieder?», fragte Verena und kratzte sich nachdenklich am Kopf.
«Rennen ist vielleicht das falsche Wort, Verena, aber der Begriff hat sich nun mal einfach so eingebürgert. Es ist eher ein sehr geselliges Ereignis mit einer einzigen Vorgabe: Die Strecke ohne Dritthilfe abzufahren, und zwar auf einem alten Göppel, der vor 1980 gebaut wurde. Egal in welchem Zustand und in welcher Zeit. Und ja, zugegeben, Bier und Wein gehören in meinem Freundeskreis dazu. Es gibt aber auch einen Kumpel, der nur Gin Tonic in sich hinein schüttet. Wegen der Körner, sagt er immer. Das Resultat ist dann aber am Schluss dasselbe.» Catinelli lächelte in einer Kombination von schamhafter Unvernunft und schelmischer Vorfreude.

Die Eroica-Strecke führte von Quinto zur wunderschönen Tremola mit ihren Serpentinen hinauf zum Gotthardpass und zurück. Der Spass und nicht die Platzierung standen bekanntlich im Vordergrund und an den vielen Verpflegungsständen füllte Catinelli sein steinernes Boccalino unterwegs regelmässig mit Vino rosso. Hin und wieder nahm er aber ein Bier, um seinen Elektrolythaushalt auszugleichen, wie er lachend betonte.

Es bildete sich schnell eine Fahrgruppe aus Gleichgesinnten, die dann am Abend im Festzelt zusammen eine ganze Festbank besetzten. Irgendeiner aus der Gruppe erfand schon recht angeheitert spontan ein Trinkspiel. Er holte von seinem Fahrrad sein vorderes Laufrad und forderte alle Eroiconiken – allein wie er diese gerade erfundene Wortschöpfung in die Runde stammelte, war ein Highlight des Abends – er forderte also alle Anwesen- den am Tisch auf, ihr Ticket mit der individuellen Teilnehmernummer irgendwo in den Speichen des Rads zu befestigen. Dann wurde das Rad mehrfach gedreht und der Besitzer derjenigen Nummer, die sich zuoberst befand, als es zum Stillstand kam, war für die nächste Trinkrunde zuständig. Kurz vor Mitternacht wurde Catinelli bewusst, dass er vor lauter Trinkerei die feste Nahrung vergessen hatte, aber die Verpflegungsstände waren zu diesem Zeitpunkt bereits ausverkauft. Bei seiner nächsten kollektiven Verpflichtung, als seine Nummer ‘3814’ gezogen wurde, entschied er sich deshalb für eine weitere Runde flüssiges Brot.

Es blieb an diesem Abend tatsächlich, wie er den Gastgebern in Airolo prognostiziert hatte, nicht bei einem Bier und Clau-Pieder Catinelli fuhr, als das Festzelt geschlossen wurde, weit nach Mitternacht die paar Kilometer zurück nach Airolo in Richtung Gotthard. Ohne Licht, dafür mit leuchtenden Augen! Die Serpentinen der Tremola waren zwar ein paar Kilometer weiter nordwärts gelegen, aber Catinelli schien den heutigen Rennverlauf noch einmal zu memorisieren. Ungeschickterweise war die Hauptstrasse, auf der er gerade fuhr, eine lange Gerade, und sein Fahrstil wirkte gelinde gesagt schwankend. Bei der ‘Area di servizio autostradale San Gottardo Sud’ wollte sich Catinelli am Autobahnkiosk ‘Stalvedro Easy Stop’ eigentlich noch ein letztes Abgewöhn-Bier gönnen, verpasste aber die Zufahrt und befand sich bereits auf dem Pannenstreifen der Autobahn, als ein Strei- fenwagen der Polizia cantonale seine Fahrt beendete.
Clau-Pieder Catinelli war körperlich gefügig, aber erst, als ihm die Beamten Handschellen und Fussfesseln anlegen konn- ten. Es war der Sprinter­Reflex, der sein Stammhirn antrieb, mit der archaisch verankerten Absicht, seinen Konkurrenten zu entkommen. Nur waren die Konkurrenten keine Radfahrer, die sich kurz vor dem Ziel um jeden erdenklichen Millimeter rivalisierten, es waren zwei bewaffnete Tessiner Polizeibeamte, die seine geschätzten 800 Watt Trittleistung in ihren ebenfalls geschätzten Weichteilen deutlich zu spüren bekamen. Catinelli tat seinem Radfahrer-Nickname ‘Catapult’ alle Ehre, die Polizisten allerdings waren weniger begeistert von der physischen Wucht seiner Beine.
Auf dem Posten der Polizia cantonale in Biasca wurde Catinelli ohne viel Federlesens in der Zelle für renitente Kunden untergebracht und ‘Le Vélo’ ebenso unsanft in die Asservatenkammer gestellt. Die Tessiner Beamten entsprachen noch in derselben Nacht sehr gerne dem Wunsch der Kriminalpolizei des Kantons Aargau nach Überweisung. Catinelli wurde mittlerweile von der SOKO ‘Per Pedes’ gesucht und hier im Tessin war man froh über die sofortige Möglichkeit eines interkantonalen Austauschs. Die Kulanz der Tessiner ging sogar so weit, dass man den mittlerweile handzahmen Delinquenten bis nach Altdorf brachte, wo auf dem Parkplatz vor dem Telldenkmal bereits ein Zivilwagen der Aargauer Polizei auf dessen Überführung nach Aarau wartete.