Schrödingers K10

Anton Schraner hat beschlossen, demnächst einmal seine Nase in die Welt der wissenschaftlichen Labore zu stecken.


Ein Ausschnitt aus Schraners Notizbuch.

Ein Büchlein auf dem Nachttisch mit dem Titel ‘Quantenphysikalische Mörderspielchen’ fasste  zwei meiner Leidenschaften zusammen: die Kriminalistik und die Physik jenseits der Newtonschen Dimensionen. Ich musste zugeben, dass ich von beiden Fachgebieten eigentlich recht viel verstand, aber nichts wirklich begriff – für die Kriminalistik hatte ich zu wenig eigene kriminelle Energie und bei der Quantenphysik fehlte mir der wissenschaftliche Background. Ich wusste, dass ich, streng wissenschaftlich gesehen, Begriffe und ganze Theorien mischte, aber ich beschrieb den Reiz der Materie gerne mit einem Beispiel aus der Chaostheorie: «Das Leben ist dort interessant, wo die Gegensätze aufeinander prallen! Wie beim Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs oder, wunderschön anzusehen, bei der Mandelbrot-Menge, dort wo das Chaos auf die Ordnung trifft. Da spielt der Blues!» Die Mandelbrotmenge war mein liebstes grafisches Motiv; ich betrachtete bewundernd, wie aus einer simplen mathematischen Formel, die ich keinesfalls verstand, am Computer bildliche Darstellungen von Farnen, Tieren und Wolken entstanden, sich immer und immer wiederholend, je tiefer man in das Gebilde eintauchte.
Ich, Anton Schraner, versuchte mich auf den Text des Büchleins zu konzentrieren. Die Geschichte, die ich gerade am Lesen war, hiess ‘Schrödingers K10’ und war eine makabre Erzählung über einen Wissenschafter namens Schrödinger, der mit extremophilen Archaeobakterien forschte. Diese Bakterien hielten Kälte und Hitze gleichermassen aus, auch Säuren und starke Basen, und waren dennoch für die Umwelt harmlos, obwohl sie sehr interaktionsfreudig mit anderen Biofaktoren waren. Als Biophysiker bei einem Lebensmittelkonzern befasste sich Schrödinger seit Jahren mit diesen urtümlichen Bakterien, stets auf der Suche nach einer ökologisch verträglichen biologischen Abbaumethode von plastifiziertem Verpackungsmüll. Seine bisherigen neun Kulturen hatten nicht den gewünschten Erfolg gebracht, aber die zehnte, K10, hatte es in sich! Erstmalig ist es ihm anscheinend gelungen, mit Hilfe der Heisenbergschen Unschärferelation ein reales Problem zu lösen. K10’s Spezialität war es, Eisenverbindungen jeglicher Art umzuwandeln. Es war zwar nicht die gesuchte Methode für den Plastikmüll, den er für seine Auftraggeber mit biochemischen Methoden entsorgen sollte, aber die Versuche versprachen, die Oxidation von Eisen definitiv rückgängig zu machen. Rost und Korrosion waren damit endgültig Vergangenheit. Damit liess sich eine Menge Geld verdienen, war sich Schrödinger sicher. Nur kam es nicht so weit! K10 verband sich nicht nur mit dem Eisen von Maschinen, sondern auch mit den Eisenkernen der Hämoglobinmoleküle in den roten Blutkörperchen, den Erythrozyten.
Ich las mit einem gewissen Schauder, aber dennoch fasziniert, den Schlusssatz der Geschichte: «Die Bakterienkultur frass sich den Erythrozyten folgend durch die Blutbahnen Schrödingers und verwandelte sämtliche roten Transportzellen von Sauerstoff und Kohlendioxid intrinsisch zu einer gummigen Masse, die in Sekunden aushärtete. Kapillaren, Venen, Arterien und Aorten und schliesslich das Herz wurden zu einem immer filigraner werdenden Netz aus polymerem Biokunststoff. K10 lebte – und es klebte! Nur Schrödinger lebte nun nicht mehr!»