Roduner, ein wirklich schmieriger, widerwärtiger Zeitgenosse…
Ausschnitte aus ‚Ein Fuss zu viel‘
Paul Roduner grinste. Er war nach einer durchgearbeiteten Nacht mental erstaunlich wach, obwohl ihm mittlerweile die Augen vor Müdigkeit im Sekundentakt zufielen.
«Gestatten, Roduner, schmieriger halbseidener Möchtegernschriftsteller», pflegte er sich selbst Unbekannten vorzustellen, um neue Bekanntschaften proaktiv sowohl für sich zu interessieren als auch die zwischenmenschliche Enttäuschung, die in der Regel folgte, früh abzufedern.
Sein asymmetrisches Grinsen wirkte maskenhaft. Ursache waren filterlose ‘Gauloises bleues’, eine nach der anderen, über Jahre stets im linken Mundwinkel festgehalten, wo der einst harmonische Halbkreis der Lippen nun markant durch eine deutliche Einkerbung unterbrochen wurde. Roduners Begeisterung aber blieb ungebrochen! Wieder einmal war es ihm gelungen, sein durch Erfahrung und Hartnäckigkeit aufgebautes Wissen zielgerecht einzusetzen. Erpressung war ein hartes Wort, das er nicht in den Mund nehmen mochte, zumal es wegen der Zigarette dort gar keinen Platz hatte. Erfahrungsoptimierung tönte doch viel besser. Für ihn war es eine Optimierung seines Kontos und seiner Reputation, für seine Opfer eine Erfahrung, die sie nicht so schnell vergessen sollten.
Die Asche seiner Gauloises löste sich vom Rest der Zigarette und fiel, erstaunlich lange kompakt bleibend, auf die Tastatur seines Tablets. Mit jedem Buchstaben, den er mit seinen schmierigen Fingern im verunreinigten Bereich von A bis G und von R bis C tippte, verteilte Roduner die graue Masse mehr. Weil es nicht die erste Ascheladung war, mit der die Tastatur Bekanntschaft machte, fügte sich der neue Rückstand zur restlichen, talgig gewordenen Fugenmasse. Mittlerweile unterschieden sich die Tastenzwischenräume kaum noch von den Tasten.
Im Hof des Amtshauses konnte Roduner beim direkten Gespräch mit Schraner eine seiner Schlüsselqualifikationen anwenden. Er war ein Meister des ‘Cold Reading’, eine ursprünglich von Zauberkünstlern und Mentalisten angewandte Technik, um in Frage-Antwort-Situationen ohne wirkliche Kenntnis über den Gesprächspartner bei diesem den Eindruck eines vorhandenen Wissens zu erwecken. Schraner gab deshalb bereitwillig Auskunft, als ihm Roduner im Gespräch immer wieder Fetzen der Unterstützung, der konstruktiven Hinterfragung oder auch konkrete Angebote zu seiner baldigen Freilassung lieferte. Roduner erfand dabei spontan fiktive Behauptungen und mischte sie mit realen Fakten, die er vor allem aus Schraners Notizen erworben hatte.
«Ist es nicht so», fragte Roduner geheimnisvoll, «dass alles, was wir intensiv tun – ausser natürlich den banalen Alltagsdingen, die mehr automatisch, als bewusst ablaufen – dass alles lediglich eine Flucht vor der Langeweile ist? Das gilt für die meisten Beziehungen, für Hobbies aller Art, für sportliche Aktivitäten oder auch für schöngeistige oder banale Auseinandersetzungen. Kultur, behaupte ich, aber auch Tratsch, ist nichts anderes als verdrängte Langeweile! Und ich glaube, Langeweile ist in letzter Konsequenz wiederum nichts anderes als ein Platzhalter für den drohenden Tod. Dein Velofahren ist also nur ein sinnloser Versuch, die eigene Sterblichkeit zu verdrängen!» Er zog nach diesem langen Monolog an seiner Gauloise und Anton Schraner wusste für einen Moment nicht, was er antworten sollte.