Noldi

Das Gegenteil von Ausserirdischen sind die Innerschweizer…


Ausschnitt aus ‚Ein Fuss zu viel‘

Nach dem etwas schamerfüllten Verlassen des Hotels flüchtete Schraner entlang des Vierwaldstättersees vergeblich vor den oft sehr heimattümlichen – er sagte abschätzend heimatdümmlichen – Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag. Sein Ziel mit I war notgedrungen Isleten, quasi am Arsch der Welt gelegen. Wenn er schon nirgends den 1.-August-Festivitäten ausweichen konnte, dann wollte er wenigstens an einem urchigen Ort ein authentisches Fest erleben. Er bekam das volle Programm mit Reden, Landeshymne, Lampions, Bier, Höhenfeuer und erfreulich wenig Knallerei, die er nun mal nicht mochte.
Schraner holte sich an einem etwas abgelegenen Getränkestand ein Bier. Er hatte nicht erwartet, hier auf dem Festgelände ein lokales Gebräu zu bekommen, aber an diesem Stand schenkte eine kleine hiesige Brauerei ihren selbstgebrauten obergärigen Saft aus. Das Ale schmeckte nach den Anstrengungen des Tages hervorragend.
«Warum hast du während der Nationalhymne nicht mitgesungen? Du bist nicht von hier, stimmt’s?» Ein riesiger Fleischberg in kariertem Hemd setzte sich rechts neben Schraner auf die hölzerne Festbank. Sein Gesicht war fast flächendeckend mit einem wild wuchernden Bart bedeckt. Nur bei den rotdurchbluteten Backen und den schmalen Äuglein sorgte die Natur für kleine unbedeckte Stellen.
Schraner war sich unsicher. Ob dieser Bergbauer seine manchmal etwas absurd wirkende Schlagfertigkeit verstand? Er stellte sich deshalb erst mal vor: «Anton Schraner. Ich komme aus Basel und mache mit dem Velo eine Tour de Suisse.»
Der Hüne klopfte mit seiner Pranke dem vielleicht halb so schweren Unterländler auf die Schulter. «Aha, Toni, ich bin der Noldi! Aus Basel? Da ist mir ja alles klar. Du bist ja näher bei den Franzosen und Schwoben als bei uns Innerschwyzern», grinste er und trank auf einen Zug ein ‘Grosses’ der nationalen Einheitsbrauerei.
Schraner nahm das Basel-Bashing, das fast überall südöstlich des Juramassivs zu einem helvetischen Bedürfnis zu gehören schien, gelassen, nicht aber die gewaltige Urkraft des Innerschweizers, die sich vor ihm aufbaute.
«Ich will’s mal so erklären, Noldi», nahm er seinen ganzen Mut zusammen. «Du trinkst, während du die Hymne singst, die helvetische Einheitspfütze, die aber eigentlich dänisch ist. Ich hingegen trinke das lokale Bier von hier und singe nicht. Dafür geniesse ich Schluck für Schluck, was die Heimat hervorbringt. Wer von uns ist nun der bessere Patriot?»
Noldi war nicht auf den Kopf gefallen. Wortlos stand er auf, ging zum lokalen Bierstand und holte ein Blech ‘Grosse’. Wiederum klopfte er mit seiner Pranke Schraner auf die Schulter. Diesmal fühlte es sich aber an, als ob er respektvoll Rücksicht nähme.
Schraner war froh, dass Noldi nicht weiter reflektierte. Er wäre in Erklärungsnotstand geraten, wenn er gefragt worden wäre, woher denn das Malz und der Hopfen des heimischen Gebräus stammte. Aus Deutschland? Polen? Vielleicht war es auch noch eine Vorkriegscharge aus der Ukraine? Sicherlich kamen die Rohstoffe aber nicht aus der Schweiz, das wusste er. So schwierig war es, die nationale Identität in einer globalisierten Welt zu wahren.
Eine gute Stunde später grölten beide gemeinsam die Nationalhymne und ‘A. Schrani’ wies sein urchiges Gegenüber in die Feinheiten der Basler Fussballhymnen ein. Noldi adaptierte schnell und brummte vor sich hin: «Innerschwyzer kasch nid wärde, Innerschwyzer, das muesch syy!»